Aufbau «Raumskizze», 2001, in situ , Ausstellungsraum Städt. Bühnen, Münster
Aufbau «Raumskizze», 2001, in situ , Ausstellungsraum Städt. Bühnen, Münster

 

Anja Hoinka – Raumskizze

 

Das Erleben des Raums vertraut zumeist vorschnell der unmittelbaren Wahrnehmung, dem flüchtigen Konstatieren des vermeintlich gegebenen: Umfassende Mauern nehmen sich als unabänderliche Demarkationen aus, Fensteröffnungen scheinen verbindlich vorgeschriebene Ausblicke auf die ausgegrenzte Umgebung. Die offensichtliche Unverrückbarkeit der architektonischen Situation verführt zum vorschnellen Urteil, den erlebten Raum als feste, beinahe statische Größe zu akzeptieren.

 

Anja Hoinka hat sich in ihren Arbeiten diesem Stereotyp der Betrachtung stets widersetzt. Raum war ihr nie nur eine Wirklichkeit, verstand sich für sie vielmehr als ein Subsystem verborgener Binnenbereiche und Strukturen, die nur aufgedeckt und visualisiert werden müssen, um eine zweite Wahrheit sichtbar werden zu lassen. Es ist nur folgerichtige Konsequenz, wenn diese andere Realität verdeckter Binnenräume in Anja Hoinkas künstlerischem Werdegang nunmehr eine Eigendynamik entfaltet, Autonomie einklagt und gegen den konkreten Raum konkurrierend antritt.

 

Aus der achsialen Ausrichtung verschoben konstituiert sich in der scheinbar vertrauten Umgebung des Theaterfoyers ein neuer Raum, der in der Hinführung auf die dominierende Ecksituation gleiche Aufmerksamkeit beansprucht wie sein steinernes Äquivalent. Ein Dielenboden deutet sich an, der die Begrenzungen des Mauerwerks negiert und den Wandabschluß neu definiert. Ein hölzerner Paravent schirmt ein Unbekanntes, uns Verschlossenes ab, ein Lamellenvorhang verhindert die gewohnte Aussicht auf das urbane Umfeld, während das reliefierte Streifenmuster den Blick für den ästhetischen Eigenwert des benachbarten Heizkörpers sensibilisiert, der nicht länger auf seine bloße Funktionalität hin reduziert sein will.

 

Die herkömmliche Raumsituation ist aufgebrochen, die bekannte Topographie aus dem Gleichgewicht geraten, der Betrachter aufgefordert, sich neue Standorte zu erschließen, die Sicherheit und Gewähr bieten. Die Suche nach dem beruhigenden Fixpunkt aber, der die Verortung im neuen Raum erlaubt, entlarvt sich schnell als hoffnungsloses Unterfangen. Der geflieste Boden, der die Schritte des Besuchers unwillkürlich lenkt, definiert bei jedem Positionswechsel die Fluchtpunkte wieder neu: Vermeintliche Parallelen formieren sich zu radialen Strahlenbündeln, die andernorts wieder fächerförmig aufspringen und Ausweitung suggerieren, obwohl Zuspitzung und Verengung nahe läge. Nicht nur ein zweiter und dritter, ein vierter, gar ein fünfter Raum deuten sich an, um Irritation und Ratlosigkeit zu hinterlassen, wo vorher die überlegene Sicherheit im Anblick des Altvertrauten herrschte.

 

Anja Hoinkas raumgreifende Installation erklärt sich selbst im Medium der Skizze, um damit den Aspekt des Prozeßhaften, den Zustand des Offenen, Abänderlichen und Unabgeschlossenen zu betonen. Die mit braunem Klebeband umrissenen Räume sind Entwürfe, Provisorien, die verändert, erweitert, ausgeführt, aber auch verworfen werden können. Im Kontext des architektonischen Umfelds aber entsteht mit sparsamsten Mitteln ein neues räumliches Konzept, dem die Leichtgläubigkeit des Auges eine befremdend suggestive Realität verleiht.

 

Wolfgang Türk

 

(Eröffnungsrede zur Ausstellung „Raumskizze“, in situ, Städtische Bühnen Münster, 15. September - 11. November 2001)