«geradewegs», 2005, Raumzeichnung Rathaus Pulheim
«geradewegs», 2005, Raumzeichnung Rathaus Pulheim

 

Anja Hoinka – gerade-wegs

 

Anja Hoinka bezeichnet ihre Arbeit als „Raumzeichnung“. Aus der vertrauten Struktur eines Raumes wird durch ihre Arbeit ein neuer Raum geschaffen, der sich dem Betrachter aus verschiedenen Perspektiven erschließt und der ein subtiles Spiel mit Aspekten der Räumlichkeit und der Fläche anbietet.

 

Die hier in Pulheim realisierte Arbeit, kann dabei im Zusammenhang mit anderen Projekten Anja Hoinkas gesehen werden, denn die Auseinandersetzung mit Orten und auf diese bezogene „zeichnerisch“ reduzierte Rauminterventionen ist das durchgängige Thema der in Köln lebenden Künstlerin.

 

Sie benutzt statt des Zeichenstiftes für diese Art von Arbeiten meist braunes Klebeband. Die erste Raumzeichnung der Künstlerin entstand 2001 in Münster. In den Jahren davor arbeitete sie unter anderem an Arbeiten aus Karton, die sich durch das Herausschneiden von Linien, ähnlich der Technik des Holzschnitts, auszeichneten. Später entstanden Skizzen aus Karton und braunem Klebeband. Das braune Klebeband wurde dann in Münster erstmalig als Material für eine Raumzeichnung benutzt. Einige Skizzen, die Anja Hoinka in der Vorbereitung auf diese Ausstellung erstellt hat, sind in der Glasvitrine neben der Cafeteria ausgestellt.

 

Bei der Raumzeichnung, die wir heute hier sehen können, benutzt Anja Hoinka anstatt des üblicherweise von ihr verwendeten Klebebands, ein filzartiges Material, um der Raumsituation gerecht zu werden. Das scheinbare Gebrauchsmaterial erfährt nun durch die Umfunktionierung eine Umdeutung, wie gleichzeitig die Atmosphäre der architektonischen Umgebung durch ein stoffliches Element erweitert wird.

 

So schafft Anja Hoinka mit ihrer Arbeit Situationen, die im Betrachter von Beginn an Orientierungsprozesse auslösen. Sie bricht die architektonisch und statisch definierte Struktur des Raumes und setzt ihr eine weitere, schiefe Ebene entgegen. Die zunächst simple Struktur des Raumes wird aufgebrochen, in dem sich die Arbeit über vorgegebene Grenzen wie Ecken und Kanten hinwegsetzt. So kann Anja Hoinkas Arbeit etwa an bestimmten Stellen den Eindruck einer durchgehenden Linie erzeugen, wo tatsächlich Ecken und Kanten vorhanden sind.

 

Durch ihre Arbeit erhält der Raum neue Konturen und ermöglicht dem Rezipienten eine veränderte Wahrnehmung seiner Beschaffenheit. Der Betrachter spürt den durch seine Wahrnehmung ausgelösten Einsichten und Assoziationen nach. Eine weitere Ebene scheint im Raum zu schweben.

 

Die niemals gegebene vollständige Überschaubarkeit der Arbeit von einem bestimmten Standpunkt aus, spielt dabei eine weitere Rolle. Zu einem unverrückbaren und ein für allemal feststehenden Bild gelangt der Rezipient nicht.

 

Entscheidend ist das allseitig Umgebensein des Betrachters durch die Arbeit. Sie erlaubt es nicht mehr, von einer einfachen Bild-Betrachter-Beziehung zu sprechen. Es gibt keine Stelle, die sich auf das Gesichtsfeld des Wahrnehmers hin orientieren würde. Umgekehrt erfordert die allseitige Präsenz der Arbeit einen ständigen Wechsel der Blickrichtung, um überhaupt in ihrer Gesamtheit wahrgenommen zu werden. Als adäquate Wahrnehmungsform der Arbeit Anja Hoinkas folgt daraus die permanente Neueinstellung der Perspektive. Eine Linie entsteht, die die Raumbegrenzung auflöst und somit den Raum neu definiert. Die Linie zieht den Rezipienten „geradewegs“ in den Raum. Es entsteht eine Eigendynamik, die dem Blick eine Richtung gibt und schließlich die Raumzeichnung sichtbar macht. Die vertraute Raumsituation ist verändert. Es wird ein zweiter fiktiver Raum sichtbar, der Irritation erzeugt. Durch die den Betrachter umgebende Präsenz der Raumzeichnung ist gewährleistet, dass er sich wie der Künstler in ihr befindet. Die Linie läuft aus bzw. wird gestoppt, ohne ein definitives Ende zu finden.

 

Im Falle von Pulheim, hat Anja Hoinka die schwierige Raumsituation mit all ihren Besonderheiten akzeptiert und es als Herausforderung betrachtet, ihre Arbeit „in den Raum zu zeichnen“. Der reale Raum ist die Grundlage bzw. wird zu der Fläche, auf der die Zeichnung entsteht. Somit ist die mit Filzbahnen umrissene Ebene ein Entwurf, der verändert, erweitert, aber auch verworfen werden könnte und eine Vielzahl von individuellen neuen Raumvorstellungen erwachen lässt.

 

Sich der Eindimensionalität der Betrachtung widersetzend, lässt die hier realisierte Raumzeichnung einen Raum im Raum entstehen, den Sie, meine Damen und Herren nun mit ihrer individuellen Wahrnehmung zu „betreten“ und sich anzunähern, herzlich eingeladen sind.

 

Barbara Dambowy, Köln

 

(Einführung zur Ausstellung „gerade-wegs“ von Anja Hoinka, Pulheim, Juni 2005)