„Heizung, Relief“ und „Tür, Relief“, 1996, Wellpappe, Draht, je ca. 205 x 92 x 11,6 cm
„Heizung, Relief“ und „Tür, Relief“, 1996, Wellpappe, Draht, je ca. 205 x 92 x 11,6 cm

 

 

Zeit und Raum als Determinanten menschlichen Daseins hüllen sich zumeist in die Abstrakta mathematisch-physikalischer Zeichen und Begriffe: Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre setzen temporäre Zäsuren zwischen dem flüchtigen Augenblick, der Sekunde, und dem zeitlosen Begriff der Ewigkeit. Konventionelle Maßeinheiten beschreiben Nähe und Ferne in Zentimetern, Metern und Kilometern und machen Distanzen und Entfernungen verbal vermittelbar.

 

Das Problem der zeitlichen und räumlichen Verfassung des Menschen, sein subjektives Erleben von Raum und Zeit, bleibt jedoch in den spröden Fachtermini der Mathematik und Physik unberührt. Der wirklich konkrete Raum, die real erfahrene Zeit, sind durch bloße Angaben von Maßzahlen nicht zu erfassen. Sie bedürfen philosophischer Begrifflichkeiten, der Wortschöpfungen der Poetik oder aber der bildkünstlerischen Invention, um Ausdruck und Gestalt zu gewinnen.

 

Anja Hoinka hat ihr künstlerisches Interesse auf die Wirklichkeit des Raums gelenkt, jenen vom Menschen erlebten und gelebten Umraum, in dem die Selbstverständlichkeit des Da-Seins die Frage nach seiner Eigenart oft vergessen läßt. Aus der Alltäglichkeit der gewohnten Umgebung wählt sie Möbelstücke von hoher Wiedererkennbarkeit aus, um sie - in willfähriger Kartonage reliefartig nachgebildet - zu enggefügten Kleininstallationen zu verschmelzen. Stuhl, Tisch, Heizkörper und Sitzbank bilden durch die Auffüllung der Zwischenräume eine blockhaft schwere Einheit, die sich in eine Vielzahl kleinteiliger Binnenräume untergliedert. Die Volumina, die sich durch die äußeren Formen der zusammengerückten Gegenstände ergeben, werden dabei in Wellpappe umgesetzt und als eigenständige Räume visualisiert. Die Bereichszone zwischen Objekt und begrenzender Wand, die in der Tagtäglichkeit der Wahrnehmung als unspezifischer Luftraum durch-schaut wird, empfängt in der künstlerischen Umsetzung eine haptisch erfahrbare Gestalt und Größe.


Die Installation von räumlichen Binnenstrukturen im hiesigen Ausstellungsraum mußte für Anja Hoinka eine besondere Herausforderung darstellen. Die ehemals unverschlossenen, später zugemauerten Türöffnungen wurden von der Künstlerin - in offensichtlicher Umkehrung des Vorgangs - ihrer ursprünglichen Funktion wieder zugeführt: Einblick zu geben in die dahinter liegenden Räumlichkeiten. Das in den Nischen zusammengerückte, ganzflächig verbundene Mobiliar evoziert durch das Schattenspiel der Positiv- und Negativformen eine Tiefenstaffelung, in der das Beziehungsgeflecht der Formen, ihr räumliches Miteinander, plastisch nachvollziehbar wird. Die Verwendung einfach umrissener, leicht erfaßbarer Objekte, die Neutralität des unbehandelten Kartons, sein entindividualisierter Charakter, ermöglichen dem Besucher in den dargebotenen Raumstrukturen die Vertrautheit des eigenen Wohnens wiederzuentdecken. Die Auflösung der gewissenhaft ausgekleideten Wandnischen in ein komplexes System versatzstückartiger Hohlkörper schult, ja sensibilisiert den Blick des Betrachters für den konkreten Raum, jene Vielfalt übersehener Räumlichkeiten, in denen sich sein Leben - oftmals unbewußt für das Umgebende, das Naheliegende - tagtäglich vollzieht.

 

Wolfgang J. Türk

 

(Eröffnungsrede zur Einzel-Ausstellung Anja Hoinka im Förderverein Aktuelle Kunst e.V., Hermannstadtweg, Münster, 1996)