p5, 2005, Buchbinderkarton, 55 x 50 x 0,3 cm
p5, 2005, Buchbinderkarton, 55 x 50 x 0,3 cm

 

Anja Hoinka – Pappschnitte

 

Papier, Pappe und Karton sind Materialen praktischer Benutzbarkeit: Leicht an Gewicht, stabil und dennoch variabel im Nachvollzug vorgegebener Formen gewährleistet ihre haptische Stofflichkeit eine unbegrenzte Skala alltäglicher Zweckdienlichkeiten. Willfährig fügen sie sich dem Gestus ihrer Aneignung, jener Selbstverständlichkeit des täglichen Gebrauchs, der ihren ästhetischen Eigenwert und die Vielzahl der im Material verborgenen Möglichkeit vergessen lässt.

 

Anja Hoinka hat sich diesem gewohnheitsmäßigen Denken, dem Begreifen von Papier und Karton als probate, rein funktionale Verpackungshilfe widersetzt. Der planen, allzu gleichförmigen Oberfläche industriell gefertigten Kartons misstrauend, dringt die Künstlerin mittels orthogonaler und diagonaler Ritzungen in die spröde Stofflichkeit ein, um die geheime Textur eines verdeckten Innenlebens bloßzulegen. Reliefartige Strukturen werden sichtbar; die standardisierten Wechsel von Höhen und Tiefen, von Licht und Schatten, überraschen in ihrer unerwarteten Räumlichkeit und wecken spezifische Assoziationen an die Wohnwelt der Künstlerin: an Fensterlaibungen, Dielenbohlen und geflieste Böden. Die Ergänzung dieser objektbezogenen Strukturen um wenige, sparsam gesetzte Lineaturen ist dabei notwendige Konsequenz, um die vereinzelten Gegenstände in einen räumlichen Kontext einzubetten: Perspektiven werden eingezeichnet, Wände und Ecksituationen konstituiert, Durchblicke eröffnet, die in ihrer Gesamtheit eine reale Raumsituation nachbilden. In Anja Hoinkas Objekten treten Intimität und Anonymität in ein polares Spannungsverhältnis: Wenngleich in ihrer äußerlichen Gestalt durch das persönliche Umfeld inspiriert, entbehren sie der spezifischen Charakteristika, der Spuren ihrer individuellen Benutzung. Menschenleer, scheinbar verlassen, fast verwaist, wird der Raum zum Thema seiner selbst.

 

Die Herausarbeitung der einzelnen Bildelemente aus ein und demselben Materialgrund, ihre formale Verklammerung durch die freigelegten Reliefstrukturen und die korrespondiere Kolorierung einiger Oberflächen verleiht dabei den Holzarbeiten von Anja Hoinka eine fast monolithische Geschlossenheit. Die von eingefärbten Flächen umfangenen, gleichsam umgrenzten Hohlräume werden plastisch nachvollzogen und zu autonomen Ganzkörpern aufgewertet. Die eingerahmten, unterschiedlich behandelten Binnenflächen können dabei einen Blick aus dem Fenster im Wechsel von Tag und Nacht suggerieren und deren Stimmungsvaleurs als integrale Bestandteile der Holzskulptur einfügen.

 

Anja Hoinka umschreibt in ihren Arbeiten die Wirklichkeit des Raums, indem sie ihre unmittelbare Umgebung abbildend in Karton und Holz und konkretisiert. Die Vielzahl vor Ort geschauter und – im ursprünglichen Wortsinn – durchschauter Räumlichkeiten reduziert sie in der Abstraktion des schöpferischen Nachvollzugs auf elementare Grundsituationen, in denen die Alltäglichkeit des Wohnens, das Behaust-Sein in der Welt, archetypisch gefasst ist.

 

Wolfgang Türk, 2014